Von Abbrecherquoten, dem Gehirn als Generator und der Neurodidaktik

Der Festvortrag von Prof. Ulrich Herrmann zur Eröffnung des ZLL

Eine Optimierung der Lehre sollte sich – das ist nicht ganz so banal, wie es sich zunächst anhören mag – an den Bedingungen des Lernens orientieren. Zu den Bedingungen des Lernens zählen auch die Voraussetzungen des Lernenden und an diesem Punkt setzte der Vortrag des Festredners an.

Ein Dorn im Fleisch der Hochschulen: Die Studienabbruchquoten

Es sei eine der weniger erbaulichen Tatsachen an Technischen Universitäten, so Herrmann Zahlen des Hochschulinformationssystems (HIS) zitierend, dass die Abbrecherquoten in den Ingenieur- und Naturwissenschaften bei etwa fünfzig Prozent lägen.
Dies sei sowohl unter wirtschaftlichen wie auch unter menschlichen Gesichtspunkten nicht hinnehmbar. „Nur die Besten kommen durch“, machte er zudem deutlich, sei „für eine staatliche Universität kein zulässiger Standpunkt“. Dabei macht man es sich zu einfach, zeigten seine weiteren Ausführungen, wenn man der Situation schlicht mit der Klage begegnet, dass es einfach die Schulen seien, die versagten, da die Studierenden schließlich mit zu geringem Vorwissen an die Universitäten kämen. Längst führen viele Wege an die Hochschulen, auch ohne den direkten Weg über das Gymnasium und auch ohne das klassische Abitur. Damit zeige sich in der Klage über mangelndes Vorwissen nicht nur eine gewisse Verweigerung gegenüber den Realitäten, sondern sie sei auch so alt, dass sie „den Charakter einer altägyptischen Grabinschrift“ habe, pointierte der Tübinger Pädagoge.

Die Konsequenz: Eine Eingangs- oder Übergangsphase zum Studium

Die Schlussfolgerung ist für Herrmann entsprechend naheliegend. Er plädiert für die Einrichtung einer Eingangs- oder Übergangsphase zum Studium für die angehenden Studierenden. Denn, so erläutert er, am Gymnasium lerne man höchstens ein Gymnasiast zu werden, nicht aber ein Studierender. Dies lerne man nur durch Studieren.

Bezug auf Studie der TUHH

Herrmann stützt seine Ausführungen, indem er auf die an der TUHH durchgeführte Studie zum Studienabbruch in den Ingenieurwissenschaften von Wibke Derboven und Gabriele Winker rekurriert. Die von den Studierenden für einen vorzeitigen Studienabbruch angeführten Begründungen, wie die Präsentation zu vieler isolierter Fakten ohne Zusammenhang oder eine fehlende Berufsorientierung (hier möchte Herrmann allerdings ein „leises Fragezeichen dahinter setzen“, denn eine universitäre Ausbildung sei eben auch eine Grundlagenausbildung) zeigten, dass das ursprüngliche Motiv für die Studienwahl schon frühzeitig im Studium zum Verschwinden gebracht werde. Das vorgestellte Berufsbild und die Lust an der fachlichen Materie scheinen sich auf kritische Weise nicht mit den Realitäten des Studiums zu decken.
Als Gründe im Studium zu verbleiben, nennt die Studie die Wahrnehmung, dass der Dozent sich Mühe gegeben habe, aber auch die wichtigen studentischen Aussagen, „wenn ich Kommilitonen etwas erklären konnte“ oder „wenn ich selbst praktisch etwas tun konnte“.

Neurodidaktik – sie untermauere, was Pädagogen schon lange praktizieren

Mit diesen Aussagen leitet Herrmann zu seinen Ausführungen zu Neurodidaktik über. Denn man wisse zwar auch heute noch nicht, wie genau die Informationsverarbeitungsprozesse im Gehirn ablaufen würden, man könne aber durchaus einige Methoden oder Bedingungen benennen, um die Gehirnaktivität zu fördern. Dabei zeigt sich in den Ausführungen des Festredners, dass man gezielt auf die gegebenen Voraussetzungen des Lernenden eingehen muss, um ihm passgenaue Angebote zu machen. Nimmt man diese Einsichten ernst, sind die Grundlagen für eine Erneuerung der Lehr-Lern-Kultur genannt, wie sie das ZLL verfolgt.
Zunächst einmal zeigten die Ergebnisse der Neurodidaktik, dass ohne Vorwissen nicht gelernt werden könne, denn was keine neuronalen Anknüpfungspunkte habe, werde nicht gespeichert, so Herrmann. Es ist mithin von fataler Konsequenz, gewissermaßen am Vorwissen der Studierenden ‚vorbei zu lehren’. Erst ein solides Vorwissen ermöglicht einen erfolgreichen Wissenserwerb.
Entsprechend sollte man auf verschiedene Formen der Informationsverarbeitung setzen. Herrmann führt hier das Beispiel des Schauspielers an, der seinen Text szenisch einstudiert. Dies erleichtert die Abrufbarkeit, da die Informationen mehrfach codiert werden. Unterschiedliche Wege der Vernetzung führen also zur Aktivierung des (Vor-)Wissens. Dies illustriert der Vortragende auch mit der Anekdote des vergessenen Nachnamens eines Kollegen, der ihm erst wieder einfiel, als er die Postadresse zu schreiben begann. Auch in Hinblick auf einige der folgenden Punkte liegt hier mit dem Fokus auf aktives Lernen einer der Schwerpunkte des ZLL.

„An jedem Gehirn hängt auch noch ein Mensch“

Davon, dass Angst und zu starker Druck hingegen die Gehirnaktivität nahezu zum erliegen bringen können, können viele, die einmal ein Prüfungsblackout hatten ein Lied singen. Nur in angstfreien Situationen entfalte das Gehirn sein volles Potenzial, was, so ergänzt Herrmann, natürlich nicht gegen Termine und Leistungslatten spreche.
Als einen weiteren negativen Faktor, der zum Studienabbruch beiträgt, zitiert Herrmann aus der oben genannten Studie einen Mangel an Erfolgserlebnissen. Essentiell sei es also, den Lernenden die Möglichkeit zu solchen Erfahrungen im Studium zu verschaffen. Ein Erfolgserlebnis entstehe dann, wenn das Ergebnis etwas besser ist, als man es selbst erwartet hätte. D.h. „Prüfungen müssen Chancen einer Ermutigung enthalten“, formuliert Herrmann. Derartige Erfahrungen, dazu zählt auch die Schaffung selbständiger Arbeitsergebnisse, wirken höchst positiv auf das Gehirn. Der Körper reagiert mit der Ausschüttung von Dopamin – im Volksmund auch Glückshormon genannt.
Nicht zu vernachlässigen sei außerdem das Interesse an der Person: also der Beziehungsaspekt zum Lehrenden oder zur Lehrenden und zu Gruppe (siehe bspw. TZI). Das Gehirn sei ein soziales Organ, hebt Herrmann hervor: „An jedem Gehirn hängt auch noch ein Mensch.“
Sind die Bedingungen in Hinblick auf die oben genannten Punkte (Angstfreiheit, Selbständigkeit, Erfolgserlebnisse etc.) günstig, so sind erst einmal gute Voraussetzungen zum Lernen geschaffen. Das bedeutet aber noch nicht, dass die Lernenden dann auch automatisch motiviert sind. Man könne Motivation ebenso wenig wie Hunger erzeugen, höchstens Appetit sei hervorzurufen, führt Herrmann weiter aus. Der richtige Weg sei es also, Neugier und Interesse zu wecken. Besonders sinnvoll sei es hier, die Studierenden selbständig an einem erklärungsbedürftigen Sachverhalt arbeiten zu lassen – wie man es bspw. in an PBL orientierten Lehrveranstaltungen tut. Und hier liegt ein weiterer Schwerpunkt in der Arbeit des ZLL.

Das Gehirn als Generator

Jedes Gehirn ist das Ergebnis seines Gebrauchs. Gleichwohl sich noch nicht immer jeder in der Lehre danach richtet, weiß man natürlich heute, dass das Gehirn eben kein Trichter ist. Herrmann vergleicht es eher mit einer Art von Generator an den man „Spannung anlegen“ müsse. Habe das Gehirn einmal geprüft, „geht mich das was an?“ und das bejaht, sei es ideal anhand der Schritte Übung, Wiederholung, Anwendung und Übertragung vorzugehen. Damit verweist Herrmann auf einen Satz, der ein echter Klassiker der Pädagogik ist, Comenius „von der Anschauung zum Begriff“. Ein weiterer in diese Richtung zielender Rückgriff des Festredners in die deutsche Bildungstradition ist Friedrich Schillers Satz „der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Mit dem Verweis auf das kreative, das leichte und das unbedrängte Tätigsein schlägt Hermann eine elegante Brücke zurück zu den Ergebnissen der Neurodidaktik.

Und zum Schluss: Geistiges Klonen

Den letzten Abschnitt widmet er der Frage, wozu gutes Lernen führen soll und was letztlich unter Kompetenzorientierung zu verstehen sei.
Eine gute Lehr-Lern-Kultur, so des Festredners Plädoyer, müsse für mehr erfolgreiche Studierende sorgen. Die damit verbundene praktische Konsequenz heiße Individualisierung. Den Lernenden müssten mehr Aufgaben zum selbständigen Lösen gegeben werden und die Lehrenden sollten den Lösungsprozess der Lernenden beobachten, um daraus Erkenntnisse für ihre Lehre zu gewinnen (siehe bspw. Schoolarship of Teaching and Learning). Alles andere müsse man aus neurodidaktischer Sicht als „Versuch des geistigen Klonens“ ansehen. Da Lernprozesse langsam vonstatten gehen, verweist Herrmann auf verschiedene Projekte Baden-Württembergischer Hochschulen, wie bspw. das MINT-Kolleg der Universität Stuttgart und des Karlsruher Instituts für Technologie, die alle darauf zielten, die Studienverläufe zu flexibilisieren. Letztlich würde die Semesterzahl damit erhöht und den Studierenden mehr Raum zum Lernen gegeben werden.
In einem solchen Rahmen sieht der Tübinger Pädagoge auch die Bedingungen für einen erfolgreichen Kompetenzerwerb gegeben. Kompetenz, so formuliert Herrmann eine Arbeitsdefinition, wäre etwas, das oberhalb fachlicher Expertise angesiedelt ist. Oder anders: „In der Kompetenz ist die Kreativität beheimatet“. Damit macht er für den Kompetenzbegriff die Transfer- und Anwendungsfähigkeit zentral und warnt zugleich davor, bei kompetenzorientiertem Prüfen die fachliche Expertise nicht zu vernachlässigen. Gleichwohl sollte man aber im Studium „Findungs- und Ausgestaltungsräume der Selbstkompetenz eröffnen.“ Die Professoren könnten dazu beitragen, nicht zuletzt durch ihre wichtige Aufgabe der Erregung von Interesse in und an ihren Fächern. Denn die fachliche Kompetenz, so Herrmann, die müsse sich bei Professoren von selbst verstehen.
Das ZLL habe eine Sisyphos-Arbeit vor sich, schließt er. Der Glaube maximale Stoffmassen vermitteln zu müssen, die Angst, die Kontrolle des Lernprozesses aus der Hand zu geben (dabei ist die Vorstellung der Kontrolle ohnehin eine Fiktion), schlechterdings andere Lehrvorstellungen und Überzeugungen von Lernprozessen – vieles steht einem Wandel der Lehr-Lern-Kultur im Wege. Daher müsse der Prozess des Wandels der Lehr-Lern-Kulturen auch zu einer Sache der Studierenden gemacht werden, deren Engagement hier gefordert ist.
Dem ZLL gibt der Festredner zu guter Letzt den Leitspruch Maria Montessoris mit auf den Weg: „Hilf mir, es selber zu tun.“

T.L.

Ein Gedanke zu „Von Abbrecherquoten, dem Gehirn als Generator und der Neurodidaktik

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