Individualisierung in der Hochschullehre
Seit den 80er Jahren wird der modernen Gesellschaft die Diagnose der “Individualisierung” gestellt und als neue regulative Idee von Gesellschaftspolitik beschrieben (Beck 1983, 1986). Sie besagt, dass ältere soziale Formen oder Gemeinschaften – wie Klasse, Stand oder Familie – stark an Bedeutung verlieren und komplementär dazu mehr Risiken, aber auch Chancen auf das Individuum verlagert werden. Dies hat zur Folge, dass das Individuum nach eigenem Ermessen immer wieder selbst Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten beurteilen und für sich erschließen muss.
Damit ist die Individualisierung seit langem an den Hochschulen angekommen. Versteht man darunter auch die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Potentiale und die Besonderheiten des Einzelfalls, so ist das Thema in der Hochschulentwicklung auf drei verschiedenen Ebenen bedeutsam: Neben dem Bereich der Profilentwicklung der Hochschulen (‘Hochschulprofile’), wie sie zum Beispiel mit der Exzellenzinitiative in Richtung internationaler Forschungsorientierung angestrebt wird, sind dies die Ebenen der Differenzierung der Studienprogramme (‘Studiengangsprofile’) und der bewussten Vorbereitung und Unterstützung verschiedenartiger Lern- und Studienwege im selben Studienprogramm (‘Lernprofile’ und ‘Kompetenzlinien’).
In der Curriculumsentwicklung lassen sich drei Grundtypen unterscheiden (Salden, Fischer & Barnat (2016), S. 134): Neben der strukturorientierten Studiengangsentwicklung, die auf gute Studier- und Durchführbarkeit zielt (z. B. Kultusministerkonferenz 2010) und der prozessorientierten Variante, welche sich an guten Beteiligungschancen der relevanten Akteure und Stakeholder orientiert (u. a. Jenert 2012, Schäfer & Kriegel 2014), eröffnet besonders die didaktikorientierte Studiengangsentwicklung Chancen, um für das eigene Studienprogramm ein unverwechselbares, individuelles Profil zu entwickeln (Salden, Fischer & Barnat (2016), S. 139 ff.).
Bei der didaktischen Studiengangsentwicklung wird mit der Ausgestaltung eines Studiengangsprofils ein “spezifischer methodisch-didaktischer Zugang betont und gepflegt” (Tremp 2012, S. 66). Dabei können die angewendeten Methoden das Lernverhalten der Studierenden in einem Studienabschnitt oder im gesamten Studienverlauf maßgeblich prägen. Hierbei spielt neben den fachnahen Aspekten das ‘Lernen der Didaktik’, also das Vertrautwerden mit den maßgeblichen Lernformen und den damit verbundenen Anforderungen, eine erhebliche Rolle.
Mit der didaktischen Studiengangsentwicklung werden die Hoffnungen verbunden, dass Lehr- und Lernmethoden, Inhalte und Lernziele besser aufeinander abgestimmt werden. Die Studierenden sollen so nicht nur die Fachinhalte besser verstehen, sondern durch die zunehmende Vertrautheit mit den gewählten didaktischen Methoden begleitend auch bessere Lernroutinen entwickeln. Zudem erhoffen sich die Hochschulen von der didaktischen Profilbildung, also der Individualisierung auf der Ebene ähnlicher Fachprogramme in der Hochschullandschaft, mehr studentische Nachfrage anzuregen. Dafür spricht das an sich überzeugende Argument, dass eine bestimmte Auswahl und Anordnung didaktischer Methoden im Curriculum eher dazu führt, das die Absolventinnen und Absolventen schließlich über das versprochene Kompetenzprofil eines Studiengangs verfügen.
Mit diesem Ansatz lässt sich gedanklich wie praktisch eine weiterführende didaktische Grundidee verknüpfen: das Scaffolding. Scaffolding bezeichnet die dynamisch anpassbare Verwendung von ‘Lerngerüsten’ im Verlauf des Hochschulunterrichts als vorrübergehende Hilfestellung (Puntambekar & Hübscher 2005, Wild & Esdar 2014). Was vor und nach der hochschulischen Bildungsphase ohnehin üblich und bewährt ist – die Planung individueller Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Schule und Berufspraxis – wird so auf die Universität übertragen.
Das Scaffolding als Unterrichtsprinzip fußt auf drei zentralen Elementen: Als Basis dient eine fortlaufende Kompetenzfeststellung im Sinne einer Analyse von Lernstand und Bedarf (“ongoing diagnosis”). Damit verbunden ist eine am Lernstand der/des Einzelnen ausgerichtete Unterstützung (“adaptivity and calibrated support”). Als drittes Element kommt schließlich das schrittweise Zurückbauen der Lernunterstützung hinzu (“fading”, Lipowsky zit. n. Wild und Esdar 2014; Puntambekar und Hübscher 2005). Konkreter zielt Scaffolding dadurch …
- auf den Abbau von Kompetenz-Unterschieden, indem Lehrende die Lernenden zeitlich begrenzt intensiver unterstützen und dadurch helfen, neue Kompetenzen aufzubauen
- auf gestufte Lern-/ Strukturierungshilfen in Form von zeitlich begrenzter inhaltlicher Unterstützung
- weniger auf konkrete Handlungsoptionen, sondern es stellt ein Konzept dar, das für den Einzelfall konkretisiert und ausgestaltet werden muss, indem didaktische Szenarien und Methoden ausgewählt und kombiniert werden, die für die jeweilige Unterrichtssituation geeignet sind.
Der Gedanke des Scaffolding entwickelte sich vornehmlich an nordamerikanischen Universitäten. Die dortigen Betreuungsrelationen lassen eine individuelle Einschätzung des Lernfortschritts der Studierenden und das differenzierte Eingehen auf die Lernergebnisse jedes/r Einzelnen als besonders umsetzbar erscheinen. Übertragen auf eine deutsche TU könnte das Scaffolding trotz anderer Voraussetzungen als Konzeptidee die Erreichung des Zieles unterstützen, bestmögliche Entwicklungschancen für den/die Einzelne/n im Zeitverlauf zu schaffen, sei es zum Beispiel im Verlauf einer PBL-Session, eines Semesterabschnitts oder gar in semesterübergreifender Perspektive.
Selbst wenn sich eine Bildungsinstitution im Hinblick auf die beschriebenen Dimensionen der Individualisierung in der Hochschullehre – also der Profilbildung für Studienprogramme und Lernwege – nicht damit begnügt, diese Entwicklungen nur zu beobachten, sondern darüber hinaus Empfehlungen zur studienplanerischen und didaktischen Umsetzung geben möchte, so bleibt doch eine entscheidende Frage: Bedeuten diese Planungen von Bildungswegen eine unzulässige Einengung und damit Zumutung für die an sich erwachsenen, als Person selbständigen Lernenden? Oder kann die bewusste Planung solcher Lernwege und Möglichkeitsräume den Kern eines zeitgemäßen Bildungskonzepts ausmachen, das gerade einer heterogenen Studierendenschaft einen akademischen Abschluss ermöglicht?
Quellen
Beck, U. (1983). Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Kreckel, R. (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen. S. 35-74.
Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. München: C. H. Beck.
Jenert, T. (2012). Programmgestaltung als professionelle Aufgabe der Hochschulentwicklung: Gestaltungsmodell und Fallstudie. In Brinker, T. & Tremp, P. (Hg.). Einführung in die Studiengangentwicklung. Bielefeld: Bertelsmann, S. 28-43.
Kultusministerkonferenz (2010). Ländergemeinsame Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Zugriff am 07.06.2016 unter www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_10_10- Laendergemeinsame-Strukturvorgaben.pdf
Puntambekar, S. & Hübscher, R. (2005). Tools for Scaffolding Students in a Complex Learning Environment: What Have We Gained and What Have We Missed? In EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 40(1), S. 1-12.
Salden, P., Fischer, K. & Barnat, M. (2016). Didaktische Studiengangentwicklung: Rahmenkonzepte und Praxisbeispiel. In Brahm, T., Jenert, T. & Euler, D. (Hg.). Pädagogische Hochschulentwicklung . Von der Programmatik zur Implementierung. S. 133-150.
Schäfer, M. & Kriegel, M. (2014). Entwicklung neuer Studiengänge – Curricula kooperativ und kompetenzorientiert gestalten. Zeitschrift für Hochschulentwicklung ZFHE Jg.9 / Nr.2 (März 2014).
Tremp, P. (2012). Einleitung. In Brinker, T. & Tremp, P. (Hg.). Einführung in die Studiengangsentwicklung. Bielefeld: W. Bertelsmann, S. 65-67.
Wild, E. & Esdar, W. (2014). Eine heterogenitätsorientierte Lehr-/Lernkultur für eine Hochschule der Zukunft. Fachgutachten im Auftrag des Projekts nexus der Hochschulrektorenkonferenz. Bonn. S. 86f.
Beitragsbild: Nils Klaproth, Leuchtturm Norderney (permission given)